Saturday, 18 September 2021 19:07

HASENBERG, Peter, Germany, German/ AUF DER ANDEREN SEITE/ EDGE OF HEAVEN

PETER HASENBERG DEUTSCHLAND




AUF DER ANDEREN SEITE

Deutschland/Türkei 2007,
Regie: Fatih Akin

Preis der Ökumenischen Jury Cannes 2007


SHORT REVIEW

„Auf der anderen Seite“ ist der zweite Teil einer Trilogie „Liebe, Tod und Teufel“ von Fatih Akin, ein international bekannter Hamburger Regisseur türkischer Abstammung, der sich in seinen bisherigen Filmen mit interkulturellen Problemen beschäftigt hat. Der Film verbindet in kunstvoller Weise die Geschichten von sechs Personen und kreist um die Themen Verlust und Tod, Trauer und Versöhnung. Der Film ist als spirituelle Parabel angelegt, die eine meditative Kraft entfaltet und durch das Trilogie-Konzept? und speziell die Bezugnahme auf den Zufall bzw. eine höhere Macht, die die Schicksale lenkt, Erinnerungen an zentrale Themen im Werk des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski weckt.


LONG REVIEW

„Auf der anderen Seite“ sei ein spiritueller Film, hat der Regisseur Fatih Akin in einem Interview gesagt. Ungewöhnlich für das Werk Akins ist der meditative Charakter und die komplexe Verschachtelung von Lebenslinien, was den Eindruck nahelegt, dass die Geschicke der Menschen von einer höheren Macht – Zufall oder göttliches Wirken? – gesteuert werden.

Nejat ist der Sohn eines türkischen Immigranten, der in Deutschland eine Karriere als Germanistikprofessor gemacht hat. Sein Vater, Ali, der als Witwer unter Einsamkeit leidet, sucht Trost bei der Prostituierten Yeter, mit der er ein dauerhaftes Verhältnis eingeht. Yeter, die von Ali bezahlt wird, denkt nur an ihre Tochter Ayten, der sie eine ähnlich erfolgreiche Karriere wünscht wie Nejat. Als Ali Yeter bei einem Streit unabsichtlich tötet, wird er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nejat bricht mit seinem Vater. Er reist in die Türkei, um Yeters Tochter Ayten zu suchen. Diese ist als politische Aktivistin mit dem Staat in Konflikt gekommen und nach Deutschland geflohen. Dort trifft sie die Studentin Lotte, die ihr selbstlos hilft. Die jungen Frauen verlieben sich ineinander, was Lottes Mutter Susanne missfällt. Als Ayten als illegale Immigrantin entdeckt und in die Türkei abgeschoben wird, folgt Lotte ihr nach. Sie findet Ayten im Gefängnis und sagt ihr Hilfe zu. Durch eine unglückliche Verkettung von Umständen wird sie in Istanbul von jugendlichen Dieben erschossen. Ihre Mutter Susanne fährt in die Türkei und trifft auf Nejat, der in Istanbul eine deutsche Buchhandlung betreibt und Lotte als Untermieterin aufgenommen hatte. Susanne will das fortzusetzen, was ihre Tochter begonnen hat, und setzt sich für Aytens Freilassung aus dem Gefängnis ein. Sie gibt Nejat auch den Anstoß, dass er wieder Kontakt mit seinem Vater aufnehmen will.

Konflikte wie Lösungen ergeben sich daraus, dass ein Mensch einen anderen ersetzt. Yeter ersetzt für Ali die Frau. Nejat übernimmt Yeters Rolle und will Ayten das Geld bringen. Susanne nimmt den Platz ihrer Tochter ein und gewinnt Ayten am Ende als eine neue Tochter. Der Film ist in drei Kapitel eingeteilt: „Yeters Tod“, „Lottes Tod“ und „Auf der anderen Seite“. Die Todesfälle lösen starke Emotionen aus: Zorn, Verzweiflung, Trauer, Verlustgefühle, aber sie führen auch zu Bewegungen, die am Ende wieder positive Zeichen setzen, dass „auf der anderen Seite“ Trennung überwunden, Trost gefunden und Versöhnung möglich werden kann. Der Film zeigt Menschen, die Konflikte und Schicksalsschläge erleben, aber auch die Kraft haben, in der Zuwendung zu einem anderen Menschen einen neuen Sinn des Lebens und neue Hoffnung zu finden. Der Regisseur verlässt sich auf starke Bilder, die die menschliche Anteilnahme und die emotionalen Bindungen auch ohne Worte erkennbar werden lassen. Die Konstruktion der Geschichte, die als spirituelle Parabel angelegt ist, erscheint so nicht als willkürlicher Kunstgriff, sondern als Ausdruck des Einflusses einer höheren Macht auf die Geschicke der Menschen.


CRITERIA FOR FILM REVIEWING/ Wie ich Kritiken schreibe

Der erste Aspekt der Beurteilung ist für mich, inwieweit der Film die spezifisch filmischen Mittel nutzt. Film bedeutet Erzählen in Bildern und ich schätze Filme besonders, die sich auf die Bilder verlassen. Ein zweiter Aspekt ist die Konstruktion der Handlung: Ist die Entwicklung der Handlung schlüssig? Sind die Motivationen der Figuren nachvollziehbar? Gibt es eine überzeugende Verbindung von Form und Inhalt? Die inhaltliche Tiefe ist ein weiterer Punkt, der für mich von Bedeutung ist. Entfaltet der Film seine Themen so, dass sie neue Einsichten oder Perspektiven eröffnen, dass der Film Denkanstöße gibt, die anregend sind und den Zuschauer auch über die Dauer des Films hinaus beschäftigen?

Die Frage nach den Themen und Werten, die der Film vermittelt, eröffnet den Blick auf die Relevanz, die man dem Film aus christlicher Sicht zumessen kann. Das bedeutet für mich, dass der Film nicht Dogmen oder Katechismusweisheiten bebildern soll, sondern dass es ihm gelingt, menschliche Erfahrung authentisch darzustellen und nachvollziehbar zu machen, sowohl die Brüche und Tiefpunkte im Leben von Menschen, die die Sehnsucht nach Erlösung und Heilung spürbar machen, wie auch die Zeichen der Hoffnung, die andeuten, wie Leben gelingen kann. Wenn der Film sichtbar macht, wie Menschen füreinander da sein können, Fürsorge, Zuneigung und Liebe entwickeln können, kann spürbar werden, wie die Botschaft Christ von der Liebe Gottes und das Gebot der Nächstenliebe konkret Gestalt gewinnen kann. Dies ist für mich in Fatih Akins Film „Auf der anderen Seite“ beispielhaft gelungen.




BIOGRAPHY

HASENBERG, PETER, Dr. phil., geboren 1953. Studium der Germanistik und Anglistik. Studienbegleitende journalistische Ausbildung. 1978 Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. 1981 Promotion zum Doktor der Philosophie. 1978 bis 1987 Hochschulassistent am Englischen Seminar der Ruhr- Universität Bochum. Seit dem 1. Dezember 1988 Filmreferent im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, seit 2001 auch zuständig für Grundsatzfragen. Seit 1989 Vorsitzender der Katholischen Filmkommission für Deutschland, die Mitherausgeber der Zeitschrift „film-dienst“ (erscheint seit 1947) ist. Mitglied im OCIC Board von 1994 bis 2001. Zahlreiche Filmkritiken und Aufsätze zum Themenbereich Film und Religion.

Anschrift: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bereich Kirche und Gesellschaft, Kaiserstraße 161, 53113 Bonn. E-Mail: This email address is being protected from spambots. You need JavaScript enabled to view it.